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Motten-Wettbewerb in London

Motten sieht man idealerweise dann, wenn man in lauen Sommernächten noch lange auf irgendwelchen Verandas sitzt und sich Geschichten erzählt. Und gute Geschichten sind wie das Licht, das uns wie Motten magisch anzieht. So heißt denn auch eine mittlerweile ziemlich große englischsprachige non-profit Organisation, die das Erzählen fördert: The Moth, die Motte.

Erzählerin Dorothea Nennewitz machte mich mit The Moth bekannt, als wir über die Geschichten sprachen, die wir jeweils im Mezrab in Amsterdam gehört hatten (Blogpost dazu). Denn was ich dort zum ersten Mal zwischen den Märchenstoffen hörte, ist bei The Moth Programm: Erzählt wird aus der Ich-Perspektive, mit mindestens wahrem Kern, vom eigenen Erleben.

Das ist spannend und vielfältig und entsprechend beliebt. Seit der Gründung 1997 wurden laut The Moth mehr als 60.000 Geschichten erzählt und heutzutage gibt es weltweit rund 600 Veranstaltungen pro Jahr. Wobei die Erzählabende vor allem in den USA stattfinden. Es gibt sie auch in Kanada, Australien und in Großbritannien, entsprechend ist Englisch die Verkehrssprache. Jede Veranstaltung steht unter einem bestimmten Motto und das Ganze hat bisschen Wettbewerbs-Charakter, denn am Ende wird jeweils ein:e Gewinner:in gekürt. Und es gibt Veranstaltungen, bei denen ausschließlich Gewinner:innen vorheriger Erzählabende auftreten.

Als wir jüngst in London Gelegenheit hatten, einen solchen Motten-Abend zu besuchen, war das zufällig gleich so eine solche Nur-Gewinner-Veranstaltung. Das Motto lautete „Finding Beauty in the Mess“, in etwa: „Das Schöne im Schlamassel finden“.

Das Publikum war aufgefordert, dazu eigene Erfahrungen auf kleinen Zetteln zu notieren, die dann eingesammelt und von der Moderation zwischendurch verlesen wurden.

Ich hätte davon schreiben können, dass mir mein Mobilfunk-Provider wegen einer kleinen, aber schmerzhaft kostspieligen Roaming-Mobilfunk-Panne bei einer Stippvisite in der Schweiz neulich die mobile Datennutzung auf meinem Handy gesperrt hatte. Weshalb ich nun ohne Smartphone-Unterstützung quer durch London zum Veranstaltungsort hatte navigieren müssen.

Vor wenigen Jahren war so etwas noch ganz normal, heutzutage ein kleiner Ausnahmezustand. Die gefundene „Schönheit in diesem Schlamassel“ waren dann die kurzen Gespräche mit etlichen Mitmenschen auf dem Weg dahin, der Stolz und die Erleichterung, es trotz mehreren ausgefallenen und umgeleiteten Bussen rechtzeitig geschafft zu haben und der Veranstaltungsort selbst. Der war nämlich wunderschön.

Die Union Chapel war denn auch komplett gefüllt und die Bar im Dachgeschoss des Nebengebäudes gut besucht.

Union Chapel in London
Bar-Restaurant in der Union Chapel

Zehn Geschichten haben wir an dem Abend gehört:

Cerys Evans

Cerys Evans erzählte von ihren Bedenken, sich als Transfrau auch noch als Bisexuell zu outen. Donna Freed erzählte von sexueller Gewalt. Rosemary Guzman Hook erzählte, wie ein langgeplantes Sabbatical dann zur Palliativpflege ihres Mannes wurde. Neil Kinsella berichtete von einem Jahre zu spät abgeschickten Liebesbrief, und dem guten Rat einer Postangestellten.

Martha McBrier erzählte, wie sich alle in ihren Umgang mit ihrem eigenen Körper einmischen, seit sie einen Tumor im Kopf hat. Layla McCay erzählte, wie sie endlich über eine Kirschblüten-Sonderedition ihrer Lieblingsschokolade zu einem freundlichen Wort in der Fremde kam. Connor O’Donoghue erzählte von einer zauberhaft schönen Begegnung, von der sich dann herausstellte, dass die andere Person einem Fetisch folgte.

Meine persönliche Favoritin: Die umwerfend dröge-herzlich-komische Martha McBrier
Kate Oliver

Kate Oliver erzählte davon, wie es ist, sich nach langer Zeit des digitalen Self-Trackings und Kalorienzählens davon zu lösen. Liyaan Sarwal erzählte von einem spontan verfolgten Weg ins Unbekannte, dessen Fortgang sie als Jugendliche so gerade eben noch selbst bestimmen konnte. Arlette Vassallo erzählte, wie es ist, ohne eigenen Kinderwunsch Mutter zu werden.

Das waren schwere und beindruckende Stoffe, auch wenn sie oft sehr lustig erzählt wurden. Das „Schöne“ darin hob sich jedenfalls strahlend und stark vom „Schlamassel“ ab. Kit Massey machte Musik und Benji Waterhouse moderierte, was keine leichte, aber eine bravourös gemeisterte Aufgabe war, und bei der die erwähnten, vom Publikum ausgefüllten Zettel mit kurzen Anekdoten zum Einsatz kamen.

Benji Waterhouse
Kit Massey

Alldieweil hatte ich ein bisschen Sorge und wunderte mich, wie all das Gehörte denn wohl wettbewerbsmäßig bewertet und verglichen werden sollte. Das war ja kein Erzählwettstreit mit tradierten Geschichten. Wir haben an diesem Abend überaus Persönliches erzählt bekommen, als seien wir enge Freunde und Vertraute, die auch noch das intimste Gewesene teilen und verstehen sollen. Ich hoffe sehr, dass die Erzähler:innen sich nicht um Ruhm und Ehre wegen genötigt fühlten, möglichst erschütterndes Privates preiszugeben. Ich gehe lieber davon aus, dass es für die Erzähler:innen im übertragenen Sinne darum ging, die eigene Stimme zu hören. Darum, Schweigen zu überwinden, sich zu öffnen und mit dem gesehen und respektiert zu werden, was sie geprägt hat.

Das Ende war ein Gutes, fand ich. Alle Erzähler:innen kamen gemeinsam auf die Bühne für den Abschlussapplaus und es wurde nur kurz erwähnt und extra beklatscht, dass Donna Freed an diesem Abend gewonnen hatte. Gewonnen hat auf jeden Fall auch das Publikum, nämlich Stoff zum Nachdenken und eine beeindruckende Erfahrung.

Quellen und Weiterführendes:

Wikipedia zu “The Moth”: https://en.wikipedia.org/wiki/The_Moth
Webseite von „The Moth” mit Videos und Audio frei erzählter Geschichten, Shop mit Büchern und Veranstaltungskalender: https://themoth.org/

5 Kommentare

  • Tim Felix Nieländer

    Ein ganz tolles Event. Riesig groß und es ist immer wieder erstaunlich, wie groß Storytelling in den Großstädten in Europa ist.

  • Larissa

    Ich finde deine Erzählung, von der Beobachtung zu eigen persönlichen Worten, mitreißend, sodass ich gerne selber mit dabei gewesen wäre.

    • Maret

      Danke Dir Larissa! Ja, schade, dass es sowas nicht bei uns und vielleicht auch auf Deutsch gibt – jedenfalls nicht in dieser Größe und mit einer so starken Community dahinter. Dabei könnte ich mir so ein Event in Klein auch ganz gut bei Euch in der Bar vorstellen 🙂 Herzliche Grüße, Maret

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