Erzählen,  Phantasie

Wie kommt man ins Märchenreich?

Gäste von Erzählveranstaltungen wagen sich in unbekannte Gegenden, in denen die unerwartetsten Dinge passieren können – ins Reich der Phantasie oder Märchenreich, wie man so schön sagt, oder einfach: ins innere Erleben. Mutig, mutig, muss ich sagen!

Wenn eine Geschichte mündlich erzählt wird, dann wird man als Zuhörer:in natürlich begleitet – vielleicht auch sanft gelockt oder gefesselt entführt – von der Person, die gerade erzählt. Als Tourguide, Führungskraft, Schmugglerin oder (Ver-)Zauberin haben Erzähler:innen keine geringe Aufgabe und Verantwortung. Sie sollten vertrauenswürdig und kompetent sein und auftreten, so dass sich niemand sorgen muss, durch die Geschichten Schaden an Herz oder Verstand zu erleiden. Oder schlicht nicht ‚reinzukommen‘ und stattdessen mit mulmigen Gefühlen in der äußeren Situation festzuhängen. Es muss also eine Brücke gebaut werden, die es ermöglicht, die Schwelle vom Hier und Jetzt in die Sphäre des Fantastischen zu überwinden.

Ich denke bei diesem Thema immer an die “Rahmen-Theorie” des Soziologen Erving Goffman, die mir vor vielen Jahren während meines Studiums begegnete. Diese Theorie erscheint mir auch im Bezug auf das Erzählen sehr erklärungsmächtig. Goffman zufolge suchen wir Menschen immer unbewusst nach „Rahmungen“ („frames“), die es uns ermöglichen, eine Situation zu ‚lesen‘ und richtig zu interpretieren. So ein Rahmen kann aus vielen Komponenten bestehen: aus Bauart, Zuschnitt und Ausstattung eines Raumes; aus der An- oder Abwesenheit bestimmter Personen; aus der Art ihrer Kleidung, Stimme und Auftreten. Diese Rahmungen sind eine Art kultureller Konvention und neben dem Erkennen der Rahmungen lernen wir auch, welche von ihnen wir ‚betreten‘ dürfen und wie wir uns darin jeweils verhalten sollten. Dabei gibt es sozial bedeutsame Zeichen, die Anfang und Ende, bzw. den Übergang zwischen bestimmten ‚Rahmungen‘ markieren. Ein Beispiel: Das Durchschreiten der Eingangstür einer Arztpraxis macht mich zur Patientin. Dort bilden Räumlichkeiten, Routinen wie Chipkarte einlesen, warten und aufgerufen werden und auch die Kleidung der dort Arbeitenden den Rahmen, innerhalb dessen es normal und gestattet ist, dass eine Person mich persönliche Dinge fragt und mich eventuell sogar anfasst, auch wenn wir uns vorher vielleicht noch nie begegnet sind.

Kann man mit dieser Theorie der Rahmen und Übergänge auch das Hinein- und Hinauskommen in Geschichten, bzw. ‚ins Märchenreich‘ beschreiben? Ich denke schon. Orte wie das Scottish Storytelling Centre oder das Mezrab, in denen zu angekündigter Zeit das Licht gedimmt und die Erzähler:innen anmoderiert werden – das sind schon deutliche Rahmungen.

Soziologisch betrachtet eine ‚Schwelle‘ und eine ‚Rahmung‘: der Eingang des KULT-Theaters und der zum Erzählen vorbereitete Garten im schönen Vilsbiburg

Aber grundsätzlich ist Geschichtenerzählen ja an keinen bestimmten Ort und auch nicht an ein bestimmtes Publikum gebunden. Und die/der Erzähler:in schlüpft nicht notwendigerweise in ein Kostüm oder eine Rolle, die von der Privatperson deutlich zu unterscheiden wäre.

Viele Erzähler:innen haben schöne Rituale oder Routinen entwickelt, die einen Übergang und sozusagen eine ‚Pop-Up-Rahmung‘ zu gestalten. Mit Kindern kann man zum Beispiel mit (imaginären) Schlüsseln oder dem richtigen Zauberspruch die Tür ins Märchenreich aufschließen. Oder man spielt die Reise ins Märchenland szenisch gemeinsam, indem man analog zu „Wir gehen jetzt auf Bärenjagd…“ zusammen über imaginäre Felsen klettert, Flüsse durchschwimmt usw.

Vorab (und zwischendurch) etwas gemeinsam zu tun, ist sicher nie eine schlechte Idee. Zu manchen Geschichten passen Rätselraten, Quatsch-Reime oder ein Lied. Spaß macht auch das Vor- und Nachmachen von Geräuschen. Aus der westafrikanischen und karibischen Erzähltradition stammt ein Wechselspiel von Aufruf von Erzähler:in („Crick“) und Antwort des Publikums („Crack“), das sich in Schnelligkeit und Komplexität steigert, bis alle hellwach, belustigt und ein bisschen stolz sind. Sehr schön finde ich auch das Ritual, das die Erzählerin Frau Wolle für sich und ihre Gäste entwickelt hat: Sie spricht  vor Beginn ihres Erzählens eine Art Wunsch oder Segensspruch aus (schaut ihre Videos an). Als Zuhörerin bin ich dann schon ganz zuversichtlich, dass ihre Geschichten wirklich schön sein, und sich entwickeln werden wie ein langer Faden. Dieser Spruch hat etwas von einem Markenzeichen und führt bei mir als Zuhörerin zu einer Art Konditionierung: Wenn ich Frau Wolle diese Worte sagen höre, gehen in meinem Kopfkino in freudiger Erwartung die Vorhänge auf und die Scheinwerfer an.

Erzähler:innen bauen also Rahmen und Brücken. Aber nicht nur sie. Es gehört auch zu den charakteristischen Merkmalen der (Text-)gattung Märchen/Geschichte, dass sie ihre eigenen kleinen Rahmen und Begrenzungszeichen mitbringen: nämlich ein Stückchen Text oder eine Redewendung zur Ein- und Ausleitung, die so ‚typisch‘ sind, dass man gleich weiß: Jetzt kommt ein Märchen!

Acht von über dreitausend Treffern einer Suche nach "Es war einmal" in einer Sammlung historischer Schulbücher

Wer kennt sie nicht, die drei, vier Worte, die Märchen wie denen der Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen meist voranstehen? „Es war einmal…“ oder „Vor langer, langer Zeit, da lebte einmal…“. Diese Formeln verorten das, was danach kommt außerhalb unserer Realität, im Märchenreich, wo alles möglich ist – das genaue Setting wird dann meist direkt im Anschluss beschrieben. Auch das Ende der Geschichte wird markiert, um die Geschichte abzuschließen und uns alle wieder ins Hier und Jetzt zurückzuholen. Da heißt es dann oft: „Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an Ihr Lebensende“, oder: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“  In den Tiefen des archivierten Internets finden sich ganze Sammlungen von Anfängen und Enden.

Vor allem die Enden von Geschichten bieten auch Spielraum für individuelle Lösungen. Duncan Williamsons aufgeschriebene Geschichten enden oft schlicht mit den Worten „Und das ist das Ende meiner kleinen Geschichte“ und vielleicht noch einer Info darüber, wann und von wem er sie selbst zum ersten Mal gehört hatte. Im Spanischen gibt es schöne gereimte, quatschige Formeln wie zum Beispiel: „Fueron felices y comieron perdices.“ („Und sie lebten glücklich und aßen vergnüglich – Rebhühnchen.“) oder „Colorin colorado este cuento se ha acabado.“ („Meinerlei Meierei, dieses Märchen ist vorbei.”). Ein paar Enden, die ich besonders mag, kenne ich nur als englische Übersetzungen von ursprünglich auf Spanisch erzählten Geschichten:

“If you learn it you’ll know it, so listen and learn how to tell it. […] My tale is done, and the wind blows it off. When the wind brings it back, I’ll tell it again.” (Magdalena Munoz, Chile)

“Ruddy ruddy red, my story is said, and yours is still to tell.“ (Jorge Carlos González Avila, Mexiko)

Diese Sprüche gehen auf die Eigenschaften einer Geschichte ein: man kann sie lernen und kennen und erzählen, der Wind kann sie (zumindest in Form des Schalls einer Stimme) forttragen, und doch kann man sie wieder erzählen. Wenn man versucht, solche Sprüche ins Deutsche zu übertragen, kommen sogar noch weitere, überaus passende, Doppelbedeutungen, dazu: „Was Ihr gehört habt, gehört Euch. Gebt es weiter, dann behaltet ihrs.“

Letzerer ist nun bis auf Weiteres mein Lieblingsspruch zum Thema ‚Ende der Geschichte‘. Und damit sind wir auch am Ende dieses Blogeintrags. Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit! Ob Ihr nun die Kiste ausschaltet, oder Euch weiterklickt – möge Euch nur Gutes dabei begegnen!

Ein Kommentar

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Diese Seite verwendet Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmst du dem zu.

Datenschutzerklärung
error

Gefällt Ihnen dieser Blog? Sagen Sie es weiter!