Die schönste Bibliothek der Welt
Was ist wohl Dein/Ihr schönster Ort auf Erden, liebe:r Leser:in? Ich hoffe, bei dieser Frage fallen gleich viele Orte ein. Vielleicht Plätze in der Natur, die Gegenwart bestimmter Menschen oder ein Ort in der Phantasie? Ich selbst hätte bei dieser Frage wohl zuerst an bestimmte Ausblicke aufs Meer gedacht, aber nach einer Weile auch an Büchereien: sichere, allen zugängliche Orte voller Geschichten und Wissen.
Da wäre zunächst die Stadtbücherei Kiel. Dort konnte ich als Kind mit Genuss wunderbar eigenständig stöbern, Bilderbücher anschauen und mir später die schönsten Bücher zum Leihen aussuchen, während die erwachsene Begleitung irgendwo in einer Nachbarabteilung unterwegs war. Dann die urige Gemeindebibliothek Zermatt, die mir einmal bei tagelang anhaltendem Starkregen eine der schönsten Ferienzeiten in den Bergen bescherte. Berufsbedingt konnte ich später auch so prachtvoll-ehrwürdige Institutionen wie die spanische Nationalbibliothek kennenlernen. In deren Lesesaal für alte Werke sitzt man als Besucher:in den – geschmackvoll ins Ambiente eingefügten – Überwachungskameras direkt gegenüber; und muss beim Schmökern in handlichen Kleinodien aus dem 17. Jahrhundert zugeben, dass das wohl auch besser so ist… Und dann die privaten Archive, in denen der Staub buchstäblich Zentimeter hoch liegt, wo einen in den handschriftlichen Notizen die Lebenswelt vergangener Jahrhunderte anweht und wo man auf unerhörte Funde hoffen darf. Aber ich schweife ab.
Einen wirklich heißen Kandidaten für den objektiv schönsten Ort der Welt habe ich gerade im Urlaub kennengelernt, ohne vorher von seiner Existenz zu wissen. Oodi – finnisch für Ode, Lobeshymne – ist eine Zweigstelle der Stadtbibliothek von Helsinki, und was für eine!
Dem Gebäude sieht man an, dass es neu und mit bestimmten Absichten erbaut wurde. Ein langer, dreigeschossiger Riegel nah am Hauptbahnhof und vis-à-vis zum Parlament gelegen, den man von drei Seiten betreten kann. Und mit „man“ ist wirkliche jede:r gemeint, denn man kann genauso gut hereinrollen, oder sich schieben lassen. Einen Nutzer:innen-Ausweis braucht man nur, wenn man etwas Bestimmtes zur Nutzung vor Ort reservieren oder ausleihen möchte, und auch das ist dann kostenfrei.
Oodi ist ein real gewordener Phantasie-Lieblingsort, ein Märchenreich für jedermann. Die Macher:innen haben vorab immer wieder die Bürger:innen Helsinkis gefragt, was sie sich wünschen würden. Und dann wurde offenbar nicht aussortiert, sondern alles möglich gemacht. Außer der Bücherei selbst, auf die ich gleich komme, gibt es im Erdgeschoss: einen Spielplatz draußen; Spielsachen wie Frisbies zum Leihen; eine Art Kantine; ein Kino; einen Raum für Veranstaltungen; eine Ecke, in der Mitarbeiter:innen, Printmaterial und interaktive Touchscreens Interessierte zur Europäischen Union informieren; Schachspiel-Plätze; einen temporären Stand für das Ausstellen von COVID-Impfzertifikaten; einen Stand für allgemeine Informationen, an dem man auch Ansichtskarten und Stofftaschen kaufen kann. Im ersten Stock: verschiedene offene Plätze zum Lesen, Entspannen oder Unterhalten; Räume für Einzel- oder Gruppenarbeiten; ausleihbare Musikinstrumente; Proberäume und Aufnahmestudios; eine Küche für Kochkurse; Nähmaschinen; Scanner für Dias und alles Mögliche; Drucker für Papier, Stoff und 3-D-Druck; Virtual-Reality-Playstations; und Kunst, in einem Ausstellungsraum und da, wo sie ansonsten hinpasst.
Ich habe Fotos gemacht und dabei versucht, keine Besucher:innen zu fotografieren. In Wirklichkeit war alles gut besucht und sehr lebendig.
Ganz oben dann die Bücherei. Geräumig, hell und voller Bücher in vielen Sprachen. Dazu Magazine, Brettspiele, Computerspiele, CDs und DVDs und Notenblätter. Die Decke erinnert an ein luftiges Zeltdach, die Regale wiederum sind niedrig genug, um immer gut an alle Medien zu gelangen. Leute meiner Größe können den ganzen weiten Raum mit den vielen Sitzgelegenheiten überblicken, in dem im Übrigen echte Bäume stehen. Für kleine Kinder ist quasi die gesamte Einrichtung bespielbar, und neben einem eigenen offenen Spiel- und Lesebereich gibt es einen gemütlichen Raum zum Vorlesen und einen mit einer interaktiven Wand mit einer Art Zauberwald.
Wir waren viel unterwegs in diesem Urlaub, aber im Oodi waren wir dreimal – Bilderbücher anschauen, Leute gucken, englische Zeitschriften durchblättern und natürlich Kaffee und Zimtschnecken im Café und auf der Außenterrasse genießen, während überall um uns herum ganz unterschiedliche Menschen Dinge taten, die ihnen am Herzen lagen. Es war schön, dort zu sein, es ist schön zu wissen, dass es diesen Ort gibt. Ich finde es unheimlich tröstend und inspirierend, dass Menschen so etwas Tolles entwerfen und sich bauen können. Oodi ist eine greifbar und nutzbar gewordene Ode an das Gute und Schöne.