Erzählen,  Geschichte

Textile Kunst – Gewobene Geschichte

Ist Ihnen das bunte Banner auf meiner Webseite aufgefallen? Das ist ein Zierdeckchen. In Wirklichkeit ist es gut 30×80 cm groß und mit orangenen Kringeln umhäkelt. Weitere, auf diesen Seiten präsente Motive (wie der blaue Schmetterling), stammen von Kissenbezügen und Taschen. Ich habe diese Textilien in Peru gekauft, als ich dort für meine Dissertation in verschiedenen Archiven und Bibliotheken recherchieren durfte.

An diesem Traum in Pink und Blumenbunt konnte ich jedenfalls nicht vorbeigehen und kann mich daran nicht sattsehen. Hergestellt wird diese Art der Textilkunst in der Region Ayacucho. Wenn Sie im Internet nach ,Ayacucho‘ und ,bordado‘ (spanisch für ,Stickerei‘) suchen, finden Sie weitere Beispiele.

Aus der Hauptstadt von Ayacucho stammte auch eine historische Person, mit der ich mich lange beschäftigt habe, weil sie eine der ersten Chroniken ihres Landes geschrieben und gemalt hat: Don Felipe Guaman Poma de Ayala. In seinem Werk findet sich auch untenstehendes Bild.

Quelle: Guaman Poma, Nueva corónica y buen gobierno (1615), S. 647 [661]; mit freundlicher Genehmigung der Königlichen Bibliothek, Kopenhagen, Dänemark

Zu sehen ist eine alte Frau an einem Webrahmen und ein Mann mit Knollennase, der eine Mönchskutte trägt. Er scheint sie gleichzeitig zu schlagen, zu treten, anzuweisen und anzuschreien. Mit diesem Herrn habe ich mich ebenfalls lange beschäftigt, weil auch er seine Sicht der Dinge in einer Chronik festgehalten hat. Er hieß Fray Martín de Murúa und kam aus Spanien. Aus seiner Chronik wissen wir, dass er indigene Textilkunst liebte. Sein ehemaliger Angestellter, Guaman Poma, zeigt ihn hier als Prototyp eines überheblichen spanischen Geistlichen, der andere Menschen ausbeutet und das Recht beugt.

Die Frau im Bild blieb ohne Namen. Vielleicht war auch gar keine bestimmte Person gemeint. Aber ich frage mich: Wer war diese Weberin? Sie hat ihre Geschichte und ihre Sicht auf die Dinge höchstwahrscheinlich nie aufgeschrieben oder -gezeichnet. Bestimmt jedoch hat sie sie erzählt und mit Kett- und Schussfäden in ihre Webstücke ,eingeschrieben‘.

Sie haben vermutlich schon einmal gehört, dass die Inka und die anderen Völker der Andenregion keine Schrift hatten, bevor die Europäer mit ihrer Verwaltung anrückten, nicht wahr? Ihre Steuererklärungen und wahrscheinlich auch ihre Geschichte hielten die dafür zuständigen Spezialisten stattdessen mit Quipus fest, mit farbigen Knotenschnüren. Den europäischen Invasoren waren diese weisen Männer und Frauen nicht geheuer, und daher zerstörten sie Quipus wo sie nur konnten und auch die Menschen, die sie ,lesen‘ konnten. (Informationen über erhaltene Knotenschnüre findet man beim Khipu Database Project). 

Das Spinnen, Weben, Knüpfen und Häkeln wurden nicht unterbrochen und sind aus gutem Grund auch allesamt Metaphern für den Umgang mit Geschichten. Daran kann man anknüpfen und es fortspinnen. Mein schönes Zierdeckchen erinnert mich an all das.

Weiterführende Informationen:

Wer sich für Guaman und/oder Martín interessiert, der kann auf den Seiten 498–547 (ernsthaft) meiner Dissertationsschrift weiterlesen; und wer sich für die Weberin interessiert: Über sie hätte ich da eine Geschichte zu erzählen …


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