
Für immer und ewig – aufpassen
Vor einiger Zeit hatte ich das Glück, an einem Kongress für Märchenerzähler:innen teilnehmen zu können. Ja, sowas gibt’s auch. Der Kongress fand in Glasgow statt, die Verkehrssprache war Englisch, und im Programm gab es eine Sektion, die hieß „Digging where you stand“ – „Grab‘ da, wo Du stehst.“ Allein schon diese Idee und Aufforderung sind mir nicht aus dem Kopf gegangen. Es ist nun sicher nichts verkehrt daran, Abenteuer, Geschichten, Reichtümer oder Liebe in der Ferne zu suchen – das kann ich als Vielgereiste und ins Braunschweiger Land Zugezogene versichern. Aber warum nicht auch einfach mal da, wo man steht, sich selbst oder den Dingen auf den Grund gehen…?
Von der besagten Kongressteilnahme (und anschließenden Schottland-Tour) kam ich an einem Samstag zurück und war traurig, dass es mit der Reiserei jetzt wieder auf längere Zeit vorbei sein sollte. Aber vielleicht konnte ich, na ja, zur Not halt mal „da graben, wo ich gerade stand“? Also klickte ich bei einem großen Online-Kartenanbieter auf „Attraktionen im Umkreis“. Das war an sich schon amüsant: An einem Feldweg im Nachbardorf steht eine kleine alte Dampfwalze rum, die auf der Karte als lokale Sehenswürdigkeit ausgeflaggt war. Offenbar gibt es in der Aussegnungshalle auf unserem Friedhof eine antike Glocke. Und auch der Giftgarten im Kloster Riddagshausen war vermerkt. Einen willkommenen Treffer hatte ich dann mit ‚Ruine und Burgfried der Asseburg‘. „Na bitte“, dachte ich, „wir haben also auch romantische Burgruinen – nicht nur die Schotten, die ich gerade besucht habe.“ Also sind wir hingefahren.

Die ersten zwei vom Kartendienst angezeigten Zufahrtsstraßen endeten irgendwann in Sperrungen und Privatwegen, aber immerhin kam ich so zu meinem ersten Blick auf die Schachtanlage Asse II.
Das war eines der ersten Dinge gewesen, die mir auffielen, als ich gerade herzogen war: Überall, vor allem in den Dörfern im Umkreis, sieht man diese drei aufeinander genagelten, gelb bemalten Holzbretter. Sie formen ein schräges „A“, auf dessen Querstrich in schwarzer Schrift „aufpASSEn“ gepinselt steht, und daneben oft noch das Symbol für Radioaktivität. Ich erfuhr damals schnell worum es geht: Im Höhenzug namens Asse befindet sich ein altes Bergwerk, und darin wiederum lagert Atommüll. Ich habe damals vorgezogen, nicht genauer darüber nachzudenken. Beim GAU von Tschernobyl war ich sieben, und ich habe mich im Leben vielleicht nie mehr wieder so akut und schlimm gefürchtet wie später bei der Lektüre von Die Wolke von Gudrun Pausewang, in dem ein Mädchen eine ähnliche Katastrophe nur knapp überlebt. Als ich hierher zog habe ich beschlossen, das Thema – wie sagt man so schön? – wegzuignorieren. Wie hätte ich sonst hier wohnen wollen?
Viele, viele Generationen Menschen haben in dieser Gegend schon gelebt, am Südhang der Asse mindestens seit 4000 Jahren. Einige sind fortgezogen, andere sind dazugekommen. Als sie Häuser bauten, taten sie das mit dem, was da war: dem hellen Stein, den man hier überall sieht, oft mit kleinen Einschlüssen darin. Das ist Muschelkalk. Denn bevor die Menschen kamen, vor etwa 258–250 Millionen Jahren, war die Gegend hier ein flaches, heißes Meer, das Zechstein-Meer. Die Sonne verdampfte Wasser und das Meer wurde salzig. Zu anderen Zeiten führten Flüsse und Regen wieder mehr Süßwasser zu – über Millionen von Jahren ging das so hin und her. Schließlich trocknete das Meer ganz aus, und zurück blieben die Sedimente, Muschelkalk und Salz von Millionen Jahren. Davon verwitterte später vieles, Regen schwemmte anderes fort. Gestein drückte auf Salz, das verdrängt wurde und sich dann in Blasen sammelte. Diese Blasen waren leichter als das Gestein darüber, und drückten es langsam nach oben. Das Salz des vergangenen Meeres liegt in dieser Gegend meist um die 2000 Meter unter uns. In der Asse aber ist es bis 300 Meter unter der Erdoberfläche nach oben gekommen und wurde abgebaut. Von 1899 bis 1964 förderte man dort das Kalisalz aus dem alten Zechstein-Meer. Drei Jahre später kippte man Fässer mit Atommüll in die entstandenen Hohlräume.

Nun, jetzt sind wir hier. Und mittlerweile waren wir doch noch an unserem Ziel angekommen, dem Parkplatz und Spazierweg zu den Resten der Asseburg. Ich war auf der Suche nach Ruinenromantik und Spuren menschlicher Kultur, die vielleicht interessante und nahrhafte ideelle Wurzeln auch für mich hätten sein können. Was ich fand, war eine spektakuläre Schmetterlingswiese. Man hatte sie absichtsvoll neben der Allee des Spazierwegs angelegt, ein renaturiertes Stück Landschaft, aber einfach wunderschön und sehr gut besucht von diesen leichten, bunten, flatternden Wesen. Sie gaukeln so herum, nur wenige Wochen oder Monate, Sinnbilder der Leichtigkeit, des Unsteten, des Unsicher-Vergänglichen, aber auch der Lebensfreude und Schönheit.
Ein komplett anderer Lebensentwurf als wir Menschen ihn für uns meist wünschen. Unsereins will ja gerne lange leben, und der elenden Vergänglichkeit etwas Bleibendes entgegensetzen. Wir wollen uns schützen vor der Zeit und bewahren, was wir für wichtig ansehen. Die Asseburg mag ein Symbol dafür sein: Sie hatte meterdicke Wände, Waffen und Personal zur Verteidigung – aber war eben auch umkämpft als Symbol und Herrschaftsinstrument widerstreitender Mächte. Sie bestand nur 270 Jahre lang, seitdem sind weitere 530 Jahre vergangen, in denen ihre Steine so herumlagen. Heute kann man nach einem kurzen Spaziergang die anrestaurierten Ruinen besichtigen. Gleich daneben steht seit bislang 124 Jahren der sogenannte Bismarkturm. Er wurde zu Ehren eines Politikers gebaut, dessen Name heute eher nur Faktenwissen aus dem Geschichtsunterricht aber keine allzu großen Emotionen mehr weckt. Die Architektur des Turms entspricht nicht dem heutigen Geschmack, aber er ist eben historisch und bietet eine schöne Aussicht, also wird er derzeit instandgehalten.

Auf dem Parkplatz vor dem Spazierweg steht neben ein paar gut gemachten Infotafeln noch ein weiteres Monument aus Stein. Es ist ein Findling, in den der Schriftzug „aufpASSEn“ gemeinsam mit dem Radioaktivitäts-Symbol und einer Jahreszahl (vielleicht der Aufstellung des Steins) gemeißelt ist. Und nun erschloss sich mir auch der tiefere Sinn dieses Mottos. Nicht nur wir müssen aufpassen und nachhaken, ob es voran geht mit der lange versprochenen und gesetzlich beschlossenen Rückholung der maroden Giftmüllfässer aus dem Stein, den das weiche Wasser höhlt. Sondern alle Menschen, die nach uns leben werden, müssen aufpassen. Sie können nicht gefahrlos „graben, wo man steht“, denn dort könnte unser Müll lagern. Unser Müll, der im Gegensatz zu unseren Gebäuden und sonstigen Werken auch noch die nächste Eiszeit überdauern wird. Während irgendwo hoffentlich die Schmetterlinge weiterfliegen, wie sie das auch schon seit etwa 135 Millionen Jahren tun.

Quellen: Infotafeln am Asseweg bei Wittmar, Wikipedia (Zechsteinmeer, Schmetterlinge), Webseite des Vereins aufpASSEn e.V. https://aufpassen.org/


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