Forschung

Grimms ge[/er]zählte Gefühle

Man kann ja heute die tollsten Dinge mit Texten machen, wenn sie in digitaler Form vorliegen. Das, was ich hier gerade tippe, ist ‚born digital‘, entsteht also direkt im digitalen Raum und existiert erst mal nur dort. Praktisch alles andere kann nachträglich ins Digitale bugsiert werden. Alte Bücher etwa werden retrodigitalisiert, indem man sie abfotografiert, dann ein Computerprogramm den Text auf dem Bild erkennen lässt, dem Ganzen noch die bibliographischen Metadaten hinzufügt – und fertig ist das digitale Pendant zum Buch aus Papier. Das kann man dann digital archivieren, bearbeiten, weiter verschicken, ausdrucken, online publizieren und, und, und… Mit solchen digitalen Texten können sich dann nicht nur Menschen, sondern auch Algorithmen beschäftigen. Und genau das passiert heute sogar den Märchen, die die Brüder Grimm gesammelt und bearbeitet haben.

Die von Jakob und Wilhelm Grimm herausgegebenen Kinder- und Hausmärchen haben viele Auflagen und dabei auch einiges an Veränderungen erlebt. Und das nicht nur in unseren Tagen, sondern schon zu Lebzeiten der Brüder Grimm.

Die Forscherin Gabriela Rotari hat dies zum Anlass genommen, die ersten beiden Ausgaben (von 1812/15 und 1819) mit der siebenten – und damit der letzten von den Brüdern Grimm selbst bearbeiteten – Ausgabe von 1857 zu vergleichen. Sie ging davon aus, dass die Texte zunächst noch stärker den mündlichen Versionen der befragten Erzähler:innen entsprachen. Denn später hatten die Brüder die Märchen nachweislich noch weiter bearbeitet, um sie „passende[r]“ für Kinder zu machen, die immer mehr zum Zielpublikum der Bücher wurden. Tatsächlich schreiben die Grimms schon im Vorwort der zweiten Auflage (1819):

„Wir suchen die Reinheit in der Wahrheit, und geraden nichts Unrechtes im Ruͤckhalt bergenden Erzaͤhlung. Dabei haben wir jeden fuͤr das Kinderalter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage sorgfaͤltig geloͤscht.“ 

Rotari entwickelte deshalb die Hypothesen, dass es a) in der späteren, siebenten Ausgabe mehr „Emotionalität“ als in den früheren geben müsste, und dass es b) dabei deutlich weniger „negativ“ (also vermeintlich ‚kindgerechter‘) zugehen würde.

Aber wie kann man das herausfinden und messen? Mit dem Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Test. (Den kann ich hier leider nicht erklären, aber wenn es Sie interessiert: Es gibt YouTube-Videos dazu.) Im ersten Schritt arbeitete Rotari mit dem Konzept der ‚sieben Basisemotionen‘: Ärger, Verachtung, Ekel, Angst, Freude, Trauer, Überraschung.

Die Theorie dahinter stammt von Paul Ekman, der ein System entwickelte, um diese Gefühlszustände in menschlichen Gesichtsausdrücken weltweit zu erkennen. Vielleicht kennen Sie den Animationsfilm Alles steht Kopf? Darin kabbeln sich diese Emotionen als eigenständige Wesen in den Köpfen der Protagonisten ganz entzückend (auch wenn ‚Verachtung‘ und ‚Überraschung‘ dabei wohl aus dramaturgischen Gründen nicht mitspielen durften), und am Ende freunden ‚Freude‘ und ‚Trauer‘ sich noch richtig an.

In Rotaris Studie wurden diese sieben ‚basic emotions‘ dann in positive ‚sentiments‘ (Freude und Überraschung) und in negative (alle anderen) Gemütsbewegungen unterteilt. Dann wurde der Computer angewiesen, entsprechende Worte für diese Emotionen in den Märchen zu suchen und zu klassifizieren. Dazu fütterte man ihn vorab mit einem Emotionswörterbuch des Deutschen (vgl. http://www.romanklinger.de/emotion/).

Und dann? Die statistisch-digitale Analyse und der besagte Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Test ergaben, dass in der späteren Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen tatsächlich ‚mehr Emotionen‘ vorhanden waren – allerdings wider Erwarten vor allem negative. Ein kritischer Menschenblick in die Bücher zeigte dann, dass das gefundene ‚Mehr‘ an der größeren Bandbreite des benutzten Vokabulars lag: Je literarischer es wurde, desto mehr unterschiedliche Wörter kamen vor, die Emotionen bezeichnen (bzw. in dem genutzten Emotionswörterbuch verzeichnet waren). Die Studie ergab also, vereinfacht gesagt, dass in den späteren Ausgaben der Grimm‘schen Märchen besonders auch Gruseliges, Trauriges und überhaupt Unschönes in mehr Worten beschrieben wird. Rotari folgert daraus, dass dies geradezu als ein Charakteristikum von (verschriftlichten) Märchen zu werten ist.

An dieser Stelle erlaube ich mir ein wenig evidenzbasierte Spekulation: Ich vermute, der emotionale Funke springt beim Erzählen von Angesicht zu Angesicht einfach auch mit weniger Worten über. Als Erzählerin gebe ich meinem Gegenüber nicht unmittelbar vor, wie eine Situation, Person oder Handlung gefühlstechnisch zu bewerten ist. Im Zweifelsfall wirken vielleicht auch die äußeren Zeichen meiner eigenen Bewegtheit – ein Stirnrunzeln, ein Glucksen in der Stimme, ein kurzes Luftholen – stärker als die gesprochenen Worte. Ich nutze (außer beim Erzählen mit Kamishibai) keine Illustrationen, sondern suche klare Worte, die das Geschehen ‚sichtbar‘ machen. Und ich kann den Zuhörer:innen viel Freiheit lassen, ohne dass sie sich langweilen oder verloren vorkommen. Zu guter Letzt macht das persönliche Beisammensein ja auch Lust darauf, sich im Nachhinein über die Geschichten zu unterhalten. Die Unterschiede von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (und den Rechenergebnissen von Algorithmen und ihrer Interpretation durch den Menschen) sind auf jeden Fall ein sehr interessantes Forschungsgebiet, und ich bin gespannt, was Rotari und andere noch alles untersuchen und herausbekommen.

Quellen:

Rotari, Gabriela (2018), The Grimms’ Fairy Tales. International Society for the Empirical Study of Literature. Norway, July 24–28. <https://www.etrap.eu/wp-content/uploads/2018/09/poster-pdf.pdf>, abgerufen am 24.05.2020.

Digitalisierte Erstausgaben Kinder-und Haus-Märchen:
Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812. In: Deutsches Textarchiv <http://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812>, abgerufen am 24.05.2020.
Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815. In: Deutsches Textarchiv <http://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815>, abgerufen am 24.05.2020.

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