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Was ist eigentlich Storytelling?

Erkundungen eines neuen Begriffs.

Kommende Woche besuche ich die Entrepreneurship Summer School in Braunschweig. Was ich da mache? Natürlich ‚Storytelling für Entrepreneure‘! Dieser Veranstaltungstitel war schnell erdacht und klang erstmal ganz passend. Im Deutschen redet man ja heutzutage immer häufiger vom ‚Storytelling‘. Aber wieso eigentlich, und was genau ist damit gemeint? Nun, so ganz klar war mir das offen gestanden auch nicht. Deshalb habe ich mich einmal auf die Spurensuche begeben – die Fährte ist noch ganz frisch!

Der Begriff ‚Storytelling‘ stammt ganz offensichtlich aus dem englischen Sprachraum. Üblicherweise übernimmt bzw. entlehnt man ja bestimmte Worte von anderswo, weil es in der Muttersprache noch nichts Passendes gibt und die Nachbarn da schon weiter zu sein scheinen. Ein Beispiel: Die Engländer ihrerseits haben vor geraumer Zeit schon die französischen Bezeichnungen für bestimmte Tiere übernommen, um damit im Englischen das Fleisch dieser Tiere – sozusagen die Tiere im ‚essbaren Zustand‘ – zu bezeichnen. Eine ‚cow‘ verlässt dort seitdem das Schlachthaus als ‚beef‘ (le boeuf), und statt dem ‚pig‘ verarbeitet man in der Küche ‚pork‘ (le porc). Was solche Entlehnungen über die Wertschätzung nationaler Küchen (haute cuisine!) und unser Verhältnis zur lebenden Mitkreatur aussagen, darüber könnte man philosophisch werden …

Aber zurück zum Storytelling. Im Englischen bezeichnet dieser Begriff meines Wissens die ganze Bandbreite dessen, was wir bislang schlicht ‚Geschichten erzählen‘ zu nennen pflegten. Im Deutschen benutzt man nun ‚Storytelling‘ hingegen dazu, um sich von eben diesem schlichten ‚Geschichten erzählen‘ abzuheben. Klingt Letzteres also in bestimmten Kontexten zu gewöhnlich, zu unbestimmt, zu wenig ‚hip‘? Und wer genau betreibt nun wie und wozu Storytelling? Das scheint mir noch ziemlich umstritten zu sein.

Die Diskussionsseite des entsprechenden Wikipedia-Eintrages macht in diesem Fall ihrem Namen alle Ehre. Und während der Duden zu ‚Storytelling‘ das Erzählen im herkömmlichen Sinne als primäre, und den Gebrauch in der Werbung oder Unternehmensberatung als zweite Bedeutungsdimension nennt, ist der Begriff im Wiktionary und im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) bis jetzt noch gar nicht vertreten.

Wie kann das sein? Nun, um das zu beantworten müssen wir uns kurz auf die Fährte der Fährtensucher:innen begeben. Es ist nämlich so, dass die genannten Wörterbücher auf etwas unterschiedliche Weise entstehen. In jedem Fall schauen sich ihre Macher:innen, die Lexikograph:innen, genau an, wie ein Wort in der Sprache gebraucht wird. Sie arbeiten also deskriptiv (beschreibend), auch wenn das Ergebnis ihrer Arbeit dann (zumindest im Falle der Duden-Redaktion) präskriptiv, also vorschreibend wirkt.

Beim Duden-Verlag, so erfährt man auf dessen Webseiten, arbeitet eine Redaktion, die sich den Gebrauch der Wörter in großen Mengen geschriebener Texte ansieht und anhand dieser Beispiele bestimmt, was die  ‚Bedeutung‘ eines Wortes ist. Beim Wiktionary schreiben viele Privatpersonen ohne spezielle Vorgaben aber mit gegenseitiger Kontrolle und Korrektur. Das DWDS führt mehr oder weniger automatisiert die Informationen mehrerer renommierter und auch historischer Wörterbücher sowie eines offenen Gemeinschaftsprojektes zusammen und nutzt zudem noch große Textsammlungen, um deren Wörter in ihrem Gebrauch zu analysieren.

Das DWDS ist deshalb normalerweise die erste Adresse für mich, wenn ich mich über Wörter und ihre Bedeutungen informieren will. Aber wie gesagt, die Suche nach ‚Storytelling‘ blieb hier zunächst erfolglos: Man erhält schlicht die Meldung, dass es in den ausgewerteten Ressourcen (nämlich den Lexika und dem sogenannten DWDS-Kernkorpus, welches Texte aus den Jahren 1900 bis 1999 enthält) keine Informationen bzw. Belege zu diesem Begriff gibt. Doch ein Blick in die rechte Seitenleiste macht wieder Hoffnung. Denn dort sind neben den standardmäßig für die Anfragen genutzten Textsammlungen noch viele weitere aufgelistet, darunter auch solche mit Zeitungs- und Blogtexten. Und vor allem in letzteren kommt ‚Storytelling‘ vor. Dies deutet darauf hin, dass es im Deutschen ein relativ junger Begriff ist, der vor allem im Netz genutzt wird.

Über das ‚Blog-Korpus‘ des DWDS heißt es, dass es regelmäßig gepflegt und erweitert wird. Ich habe einmal nach dem Wörtchen ‚und‘ gesucht, von dem ich annehme, dass es fast in jedem Text vorkommt. Die Treffer hierzu stammen aus der Zeit zwischen Januar 2003 und Januar 2014; das müsste also der Zeitraum sein, den die Blogtextsammlung derzeit umfasst. Die Treffer für ‚Storytelling‘ (464 an der Zahl) stammen aus den Jahren 2006–2014, was darauf hindeutet, dass der Begriff im Deutschen, oder zumindest der deutschen ‚Blogosphäre‘, etwa Mitte der 2000er Jahre aufkam.

Zum Vergleich und zur Orientierung habe ich dann auch einmal in Google’s ‚Ngram Viewer‘ geschaut. Dieser Dienst ist großartig, weil er es auch Laien ermöglicht und Lust darauf macht, einmal in großen Datenmengen zu stöbern. Aber leider ist dieser kostenlose Service nicht besonders auskunftsfreudig, was Größe, Zusammensetzung und Qualität der hier durchsuchbaren Textmengen angeht. Man durchforscht einfach „lots of books“, also ‚sehr viele Bücher‘, die aus dem Projekt ‚Google Books‘ stammen. In dessen Rahmen wurden mit Hilfe namhafter Bibliotheken riesige Mengen historischer Bücher retrodigitalisiert, auch grundsätzlich eine gute Sache.

Wie beim Blogkorpus des DWDS sieht es beim ‚Ngram Viewer‘ so aus, als ob der Gebrauch des Wortes ‚Storytelling‘ seit Mitte der 2000er bis zum Ende der verfügbaren Korpusdaten stark ansteigt. Aber im Gegensatz zum DWDS findet Google schon ab Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts Treffer für ‚Storytelling‘. Ist das ein sensationeller Fund? Haben wir die Geburtsstunde des Wortes im Deutschen entdeckt? Leider nein, denn Googles Textsammlung ist zwar viel größer aber eben nicht so gut aufbereitet und aufwändig gepflegt wie manch andere. Zum Glück hat man unterhalb der Ergebnisgrafik die Möglichkeit, in die durchsuchten Bücher selbst hineinzuschauen. Und wenn man das für diese frühen Funde tut, dann sieht man, dass es sich hierbei um englische Fachartikel handelt, die offenbar in deutschen Sammelbänden veröffentlich wurden. Und die vielen Treffer ab etwa 2005? Google kann ja schlecht Bücher digitalisiert haben (oder diese zumindest schlecht online stellen), die noch urheberrechtsbewährt sind? Tatsächlich bekommt man hier nur wenige Webseiten und PDFs zu sehen, die der Dienst offenbar für diesen Zeitabschnitt heranzieht. Das Ergebnis bleibt also etwas geheimnisvoll. Hier liefert tatsächlich der vergleichsweise kleine Blogkorpus des DWDS bessere und vor allem nachvollziehbarere Ergebnisse. Aber damit zurück zu den Bedeutungen: Denn wenn man sich die Blog-Treffer einmal exemplarisch im Kontext anschaut, dann geht es beim ‚Storytelling‘ tatsächlich viel um Marketing und um die Handlungsverläufe in Computerspielen.

Das führt mich zu meiner (vorerst) letzten Suche zum Thema. Ich habe mir auch einige der vielen hundert Bücher und Produkte angeschaut, die ein großer Online-Versandhandel zum Suchbegriff ‚Storytelling‘ auflistet. Hier entsteht der Eindruck, dass ‚Storytelling‘ im Deutschen vor allem den absichtsvollen Einsatz von narrativen Elementen bezeichnet. Manchmal in der Psychologie, um Beispiele und Impulse zu geben oder etwa um Erlebtes in Worte zu fassen. Aber meistens im Sinne von ‚verkaufen‘: Ich möchte Sie von einer politischen Idee, von einem Produkt überzeugen? Ich möchte Sie für das Wohl und Wehe meiner Firma interessieren, Sie an meine Marke oder Partei binden? Dann muss ich – so die Grundidee – Ihnen eine Geschichte darüber ins Herz pflanzen. Widerstand ist zwecklos, aber Sie werden sehen, es wird Ihnen gefallen, und es ist ja auch zu Ihrem Besten …

Ich, die ich mich als Erzählerin betrachte, sehe all das mit gemischten Gefühlen. Einerseits bin ich stolz auf die Popularität des Begriffes ‚Storytelling‘: Ja, genau, die Welt braucht Geschichten! Andererseits wird mir mulmig zumute, weil man nach meinem Dafürhalten keine Zwecke mit dem Erzählen verbinden sollte. Und wenn, dann doch andere. Unterhalten, Zeit schenken, Phantasie anregen, Ermutigen … Oh, da fallen mir offenbar doch einige ein. Sind solche Ziele denn ‚besser‘ als die von anderen? Nun, ich finde schon. Aber es ist wohl nicht an mir, das zu entscheiden …

Andererseits, wenn heutzutage engagierte Menschen Erzählprojekte z.B. an Schulen starten, dann müssen sie zunächst um Unterstützung durch Fördermittelgeber und Obrigkeiten werben. Da versprechen sie dann (zu Recht!) die Sprachkompetenz, das Selbstbewusstsein, die Konzentration der Kinder zu fördern – auch wenn es ihnen vielleicht (vermutlich) vor allem darum geht, den Spaß und den Zauber der Phantasie wieder in die Schule zurück zu schmuggeln.

So etwas versuche ich jetzt also auch. Wie gesagt, kommende Woche biete ich bei einer Sommerschule der TU Braunschweig und der Ostfalia eine kleine Extra-Veranstaltung zum Thema ‚Storytelling‘ an … Mit diesem Etikett will ich junge Leute anlocken, die vielleicht ganz gerne Geschichten hören und erzählen, aber vielleicht nicht auf die Idee kämen, zu einer Erzählveranstaltung zu kommen. Frei nach den Lehren meiner kleinen Recherche: ‚storytelling sells‘. Sicher, ich werde den Studierenden die Grundzüge der ‚Heldenreise‘ näherbringen und ihnen vorschlagen, sich einmal selbst als Held:innen ihrer (unternehmerischen) Reise zu betrachten. Aber ich möchte ihnen dabei auch einfach Vergnügen bereiten und hoffentlich ein Stück weit dazu beitragen, dass sie den Begriff ‚Storytelling‘ auch mit Erzählkunst assoziieren. Mal sehen, was passiert … bestimmt gibt’s danach etwas zu erzählen!

Wichtiges Accessoire für das Geschichtenerzählen: Storyteller

2 Kommentare

  • Harry

    Liebe Maret,
    deine Ausführungen finde ich genial, vor allem deinen kritischen Blick auf den Zeitgeist samt seiner Begrifflichkeiten, gepaart mit wohltuendem Humor! Am meisten begeistert mich dein Enthusiasmus für den “eigentlichen” Sinn des Erzählens, nämlich den der zweckfreien Freude und menschlichen Nähe! Da wünscht man doch einfach weiterhin viel Spaß!!

    • Maret

      Danke lieber Harry! Und danke auch für den ersten “richtigen” Kommentar in diesem Blog!
      Es ist ja wirklich spannend zu beobachten, wie so ein “junger Begriff” sich auf den Weg in die Welt macht… ich werde das Thema auf jeden Fall im Auge behalten. Viele Grüße, Maret

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