Märchenwald
Neulich waren mein Mann und ich im Harz. In einem Fernsehbeitrag hatten wir eindrucksvolle Aufnahmen einer Drohnenkamera vom dortigen Wald gesehen und wollten uns nun als Schlachtenbummler selbst ein Bild machen. Man kann wohl Katastrophentourismus dazu sagen. Es wurde ein Besuch in einem Märchenwald der anderen Art.
Kurz hinter Torfhaus konnte man die Aussicht gen Süden fast für eintönig-herbstlich halten. Doch das Braune dort sind Fichten. Und die werden nicht wieder grün im kommenden Jahr. In Straßennähe gewahrt man teils kahle Hänge, teils Baumskelette. In meiner Jugend hatten wir Angst, dass der saure Regen den Wald tötet. Nun waren es zwei heiße Sommer, ein Sturm und der Borkenkäfer, der ja auch nur seinen Job macht.
Das Ergebnis mutet an wie ein Märchenwald, der in einer schlimmen Verzauberung gefangen ist, nur dass sich diese durch keine Heldentat mehr schlagartig lösen lässt. Indes informiert die Nationalparkverwaltung auf Tafeln, dass dieses krasse Ende künstlicher Monokultur zugleich der Anfang natürlicher Regeneration sei.
Später, in Braunlage, trafen wir dann durch glücklichen Zufall einen jungen Unternehmer, der uns stolz durch sein frisch eröffnetes Hotel führte. Die ersten Gäste waren schon da, gerade wurden noch die letzten Zimmer fertig dekoriert. In Berlin wäre diese Unterkunft eine Schicke unter vielen. Im Harz ist es ein kleines Ufo, das sich mit selbstbewusstem Understatement von seinem Umfeld abhebt. Ich schätze, dass Gäste aus der Großstadt, die tagsüber die Natur und das ganze urig-traditionell-kleinstädtische Drumherum genießen, hier abends das Gefühl bekommen, wieder in ihrer Heimat (der Zivilisation) zu sein. Und Provinzler wie wir erhalten auf diese Art eine Chance, zusätzlich zum eigenen Outdoor-Programm am Feierabend noch mondänes Flair und so etwas wie Großstadtluft zu schnuppern. Im Café/Lounge-Bereich kann man sich abendliche Poetry-Slams gut vorstellen (ein Märchenabend erfordert einen Tick mehr Fantasie). Und trotzdem, was für ein Wagnis, heutzutage ein Hotel im Harz zu eröffnen. Ursprünglich sollte bald ein zweites Haus folgen, doch diese Pläne wurden erst einmal auf Eis gelegt. Denn das hätte eine Art Retreat im Wald werden sollen. Es ist aber kein Wald mehr da.
Das Aussehen der Region wandelt sich dramatisch, und so drehte sich das Gespräch auch darum, wie man den Leuten heutzutage den Harz als Feriengebiet schmackhaft machen könne. Zu meiner anfänglichen Verwunderung sprach sich der junge Hotelier klar gegen die Werbung mit Hexen aus, die doch in so vielen Läden im Schaufenster prangen und die auch Namensbestandteil vieler Lokale und Ferienwohnungen sind. Zum einen sei Walpurgisnacht, in der die Hexen auf dem Blocksberg (also dem Brocken) tanzen, eben nur einmal im Jahr. Aber vor allem wirke das Konzept ‚Hexe‘ und ihre Darstellungen doch letztlich furchteinflößend; gerade, wenn man so durch die einsamen Wälder wandere. Und auch die Erinnerung an die Verfolgung und Ermordung von Menschen, die man der Zauberei verdächtigte, dränge sich auf. Kurz, es brauche angenehmere Assoziationen und modernere Konzepte, um die Region attraktiv zu machen.
In diesem Moment wünschte ich einmal mehr, dass ich den ‚Wandertag‘ der Braunschweiger Erzähler:innen neulich nicht verpasst hätte. Denn sie waren mit Carsten Kiehne unterwegs, der Märchen und Sagen aus der Region sammelt, herausgibt und erzählt. Er hätte mir sicher ein paar gute Gegenargumente geliefert.
Später in Bad Harzburg flanierten wir dann sozusagen mit dem Blick von Regionalplanern durch die Einkaufsbummelzone. Dort gibt es kaum Läden bekannter Ketten sondern vor allem inhabergeführte Geschäfte, in denen die/der geneigte Tourist:in nach individuellen Andenken stöbern kann. Und weil wir schon mal da waren, zog mich das professionelle Interesse in den „Märchenwald“. Auf dessen Existenz hatte das Navi hingewiesen. Der Märchenwald liegt direkt hinter der Fußgängerbrücke über die B4, in bester Lage zwischen einem Hotel, das gerade ganz offensichtlich für mehrere Millionen renoviert wurde, und dem ebenfalls recht neuen und aufwändig gestalteten Baumwipfelpfad und Hochseilklettergarten (und unweit eines Restaurants namens „Hexenwerk“).
Despektierliche Kommentare und Bewertungen im Internet hatten Schlimmes erahnen lassen. Und tatsächlich, es war leicht, gruselige und absurde Fotos zu schießen. Ein Horrorfilm im nächtlichen Märchenwald hätte gute Steilvorlagen. Dieser Märchenwald war nicht mit der Zeit gegangen. Auch nicht aus der Zeit gefallen. Er war einfach in vielen Bereichen rott.
Ein Glück nur, dass die Umgebung dort Mischwald und somit zumindest noch grün ist. Und ein Glück, dass kleine Kinder, immerhin die Zielgruppe des Märchenwalds, sich an vielen Dingen gar nicht stören.
Doch auch im Märchenwald wird investiert, allerdings in ganz anderem Maßstab. Der aktuelle Flyer weist vier der 21 aufgelisteten Sehenswürdigkeiten als „NEU“ aus, und: „Weitere Attraktionen werden vorbereitet.“ Auf Nachfrage erfuhr ich, dass die Besitzer alles selber bauen und Stück für Stück erneuern.
Die Märchenhütten seien 60 Jahre alt, sagte man mir. Vom Ende der 50er Jahre also. Sie sind damit nicht nur noch so, wie man sie selber als Kind erlebt hat – sondern im Zweifelsfall sogar so, wie schon die eigenen Eltern sie als Kinder sahen, zu einer Zeit, als noch nicht jeder Haushalt einen Fernseher besaß. Nur dass Rapunzels Teint damals sicher noch frischer war, und Hänsel und Gretel nicht auf ewig mit ihrer Mutter auf dem Weg in den tiefen, tiefen Wald festklemmten ….
Überhaupt das Konzept ,Märchenwald‘, mit kleinen Häuschen, durch deren Fenster man bewegliche Puppen sieht, während über Lautsprecher die Geschichte dazu ertönt …. Gibt es das eigentlich auch in anderen Ländern? Und falls ja, mit welchen Märchen? Für sachdienliche Hinweise wäre ich dankbar, denn ich weiß es nicht. Zumindest im Land von Grimms Märchen und tiefen Wäldern wurden offenbar Traditionslinien von mündlichem Erzählen und Puppentheater gepaart mit Dioramen und innovativ kombiniert mit der damals neuesten Technik für Bewegung, Licht und Ton. Das Ergebnis war eine stationäre und doch flexible Alternative zum Film: eine touristische Attraktion und wohl eine Vorform von Themen-Vergnügungsparks wie Disneyland.
Im Bad Harzburger Märchenwald werden nun also zuerst die Spielgeräte erneuert und ein Streichelzoo etabliert, bevor dann die Märchenhäuschen … ja, was passiert mit ihnen? Falls es konkrete Pläne gibt, so hat man sie mir nicht verraten. Sollte man das Prinzip gleich belassen und nur die Ausführung erneuern? Oder Märchenauswahl und -präsentation interaktiver, inklusiver, diverser gestalten? Und wohin mit den alten Puppen und Bühnenbildern, die nun schon so lange überdauert haben? Ein Museum als Fried- oder Gnadenhof für Märchenkultur? Oh, jemand soll bitte eine Forschungsarbeit zur Kulturgeschichte der Märchenwälder schreiben. Vielleicht ließe sich das mit der Abfassung eines Horrorthrillers kofinanzieren?
Und das Fazit dieses ereignisreichen Tages? Wir haben Traditionen gesehen, die unangetastet blieben, bis die Zeit sie bis zur Unkenntlichkeit entstellte, und solche, die vom Menschen so stark beeinflusst wurden, dass sie der Borkenkäfer in zwei Sommern zerstören konnte. Wir haben Versuche gesehen, mit viel Herzblut (mit Mut zum Kredit und/oder Vertrauen in die eigene Improvisationskunst) Traditionen zu erhalten, wieder zu beleben oder neu zu begründen. Wer den alten Märchen-/Wald noch sehen will, findet hier wie dort nur noch Ruinen. Sie wirken eher post-apokalyptisch als romantisch. Doch auf jeden Fall bringen sie einen zum Nachdenken und regen die Phantasie an, darüber zu sinnen, wie es weitergehen kann und sollte.
3 Kommentare
Angelika
Hallo liebe Maret, Deine kleine Geschichte “der kaputte Krug” hast Du sehr schön erzählt. Das darfst Du aber gerne richtig laut erzählen. Denn:
Guter Tipp für uns Alle. Wir sollten im Sommer immer so einen Krug mit uns tragen, dann wäre es nicht so verdorrt.
Ganz liebe Grüße von der im Süden lebenden
Angelika
Maret
Liebe Angelika,
danke Dir! Ich habe jetzt das Handy-Video mit dem schlechten Ton ersetzt – jetzt müsste es besser klappen mit dem “richtig laut”.
Herzliche Grüße aus dem derzeit verregneten Norden,
Maret
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